Grenzüberschreitend: Vernetzte Industrie, vernetzte Berufsbildung
PraxisinterviewIn der Industrie schreitet die Vernetzung aller Unternehmensbereiche immer weiter voran. Die Produktion, die Lieferketten, die Logistik, der Personaleinsatz, das Marketing … – alles hängt mit allem zusammen. Daher haben die IHK Region Stuttgart, die Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und Bremerhaven sowie die IHK Karlsruhe im engen Austausch mit der Wirtschaft und unter Beteiligung der Interessenvertretungen der Arbeitnehmerseite vor rund drei Jahren ein neues Qualifikationsprofil „Geprüfter Meister/Geprüfte Meisterin – Vernetzte Industrie, Bachelor Professional in Smart Industry (IHK)“ geschaffen und eine sog. „Besondere Rechtsvorschrift“ erlassen, um den Abschluss regional anbieten zu können. Nach der Ausarbeitung eines detaillierten Rahmenplans haben die ersten Absolventinnen und Absolventen nun, nach rund zweijähriger berufsbegleitender Weiterbildungszeit, ihre Prüfungen zum neuen Abschluss absolviert. Mehrere IHKs haben die Rechtsvorschrift bereits für ihre Region übernommen, außerdem stößt das Konzept auch außerhalb Deutschlands auf hohe Resonanz. Wir wollten mehr erfahren und haben nachgefragt.
Frau Schlebrügge, Herr Audick, Sie haben den neuen Abschluss federführend entwickelt. Für Menschen, die sich nun nicht so auskennen, können Sie bitte kurz erklären, was das Besondere ist?
Claudia Schlebrügge: Ohne qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird die Transformation der Wirtschaft nicht gelingen. Die Unternehmen aus der Region Stuttgart und hier bei uns in Bremen haben klar formuliert, dass die Anforderungen an die Belegschaften nicht zu den vorhandenen Qualifizierungskonzepten passen. Wir haben uns daher dazu entscheiden, eine komplett neue Fortbildungsprüfung zu entwickeln, von den Qualifizierungsinhalten für den neuen Abschluss bis zur entsprechenden Prüfung.
Claudius Audick: Das Besondere steckt tatsächlich im Stichwort „Vernetzung“. Die Industrie steht mit Blick auf die Digitalisierung und die Dekarbonisierung vor großen Herausforderungen. Nehmen wir als Beispiel die Umstellung der Energieversorgung für eine Produktionsanlage auf Wasserstoff. Damit so eine gravierende Veränderung erfolgreich realisiert werden kann, müssen die verantwortlichen Fach- und Führungskräfte vor allem das Zusammenwirken aller Prozesse verstehen und steuern können – eben die bereichsübergreifende Vernetzung des gesamten Systems.
Das bedeutet, dass der Abschluss sowohl im technischen als auch im kaufmännischen Bereich anzusiedeln ist?
Claudius Audick: Die Praxis in den Unternehmen verlangt heute vor allem ein interdisziplinäres Denken und Handeln. Genau das erwarten die Unternehmen von der Höheren Berufsbildung, dass sie Mitarbeitende für diese veränderten Anforderungen qualifiziert.
Claudia Schlebrügge: Die Ausarbeitung der genauen Qualifizierungsinhalte und in der Folge auch der Vorgaben für die Prüfung waren aus diesem Grund auch sehr aufwändig. Es reicht ja nicht, Begriffe wie „agiles Projektmanagement“ oder „interdisziplinäre Zusammenarbeit“ aufs Papier zu schreiben. Man muss das dann auch für die Umsetzung in der Praxis konkretisieren und mit den Experten in den Unternehmen abstimmen. Welche fachlichen Kompetenzen sind erforderlich und welche sozialen und kommunikativen Skills braucht es, damit jemand auf der Grundlage seines neuen Abschlusses solche Transformationsprojekte mit Projektteams aus allen Unternehmensbereichen wirklich steuern kann?
Wie bildet denn die Prüfung diesen Ansatz ab? Hier haben Sie dann ja ebenfalls Neuland vor sich gehabt?
Claudius Audick: Genau genommen gehen schon die Dozentinnen und Dozenten neue Wege. Denn wir wollen auch ein vernetztes Lernen ermöglichen und fördern. Dass die Lehrenden jeweils für sich und unabhängig von den anderen ihren Teil unterrichten, das passt nicht zur Zielsetzung unseres Abschlusses. Dem entsprechend war auch die Prüfungsentwicklung davon geprägt, dass die Zusammenhänge noch stärker im Zentrum stehen. Die hierfür passenden Dozentinnen und Dozenten bzw. Prüferinnen und Prüfer zu finden, war nicht einfach. Das funktionierte nur durch die Unterstützung der Unternehmen.
Claudia Schlebrügge: Bei der Prüfungsentwicklung hat uns die DIHK-Bildungs-gGmbH von Anfang an mit ihrer Expertise und ihren Ressourcen unterstützt. Alle IHKs, die den Abschluss also in ihren Regionen anbieten und durchführen wollen, profitieren sofort davon, dass die Prüfungen frei von regionalen Spezifika entwickelt wurden und multiplizierbar sind. Ich denke, dass die Entwicklung des Abschlusses, die Konzeption des Lehrgangs und schließlich auch die Durchführung der Prüfungen eine Art Pilotprojekt darstellt. Hier zeigt sich, wie die Höhere Berufsbildung den Wandel der Wirtschaft mitvollziehen kann.
Wie meinen Sie das?
Claudia Schlebrügge: Ich denke, dass alle Akteure neue Wege gehen werden: In der Wirtschaft finden umfassende Umgestaltungen der Prozesse und Strukturen statt. Sie erfordern, dass auch die Beschäftigten und ebenso die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen den Wandel mittragen müssen. Und sie führen dazu, dass sich das gesamte Bildungssystem verändern wird, um den neuen Anforderungen zu entsprechen. Die Transformation kennt keine Grenzen und fordert uns alle.
Claudius Audick: Dass unsere Zeit von jedem Einzelnen ein lebenslanges Lernen erfordert, ist ja umfassend diskutiert und akzeptiert. Was wir hierbei aber auch beantworten müssen, sind die Fragen, was wir lernen und wie wir lernen. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür, dass alles mit allem zusammenhängt, alles ist mit- und untereinander vernetzt. Vielleicht helfen uns die Erfahrungen, die wir mit dem neuen Abschluss gerade sammeln, diesen Ansatz auch auf andere Themen und Wirtschaftsfelder zu übertragen.
Vielleicht ja auch auf andere Länder, denn Sie haben ja bereits Anfragen aus dem Ausland erhalten. Polen interessiert sich generell für das deutsche System der beruflichen Aus- und Weiterbildung und im Besonderen auch für den Abschluss „Geprüfter Meister/Geprüfte Meisterin – Vernetzte Industrie“. Erzählen Sie doch einmal.
Claudius Audick: Diese Nachfrage ist ebenfalls das Resultat der Vernetzung, in diesem Falle innerhalb der IHK-AHK-Organisation. Die DIHK-Bildungs-gGmbH hat vor einiger Zeit bei einem Besuch in Polen das deutsche Modell der dualen Ausbildung vorgestellt und daran anknüpfend auch die Aufstiegsfortbildung erläutert. Während des Termins, an dem Vertreterinnen und Vertreter mehrerer deutscher Auslandshandelskammern und Mitglieder der Interessensvertretungen der polnischen Wirtschaft teilgenommen haben, tauchte die Frage auf, welche Verfahrensschritte erforderlich sind, um solche bzw. vergleichbare Berufsbildungsstrukturen aufzubauen. In dem Zusammenhang diente unser Projekt als Beispiel dafür, dass auch Impulse direkt aus der Region zu einem qualitätsgesicherten Abschluss führen können, ohne dass gleich das ganz große Rad der Berufsbildungspolitik gedreht werden muss.
Claudia Schlebrügge: Dass wir eine Besondere Rechtsvorschrift erlassen haben, ist Ausdruck der föderalen Struktur der IHK-Organisation. Wir freuen uns selbstverständlich, wenn sich der „Geprüfte Meister – Vernetzte Industrie“ zu einem bundeseinheitlichen Abschluss entwickelt. Aber der Bedarf der Unternehmen in unseren Regionen ist jetzt da und deshalb haben wir die Möglichkeit genutzt, im Turbotempo eine Lösung zu realisieren. Die Resonanz aus anderen IHKs, von den AHKs und bei den polnischen Kolleginnen und Kollegen im Bereich der beruflichen Bildung spiegelt, dass die vernetzte Industrie auch in anderen Wirtschaftsregionen ein akut drängendes Qualifizierungsthema darstellt, damit meine ich die inhaltliche Seite des Abschlusses. Aber wir müssen auch selbst Vernetzung in unseren Bildungsstrukturen und über unsere Landesgrenzen hinaus „leben“, wenn wir die Transformation meistern wollen.
Frau Schlebrügge, Herr Audick, ganz herzlichen Dank für Ihre Erklärungen und die wertvollen Impulse.