Pfadnavigation

Mehr bringt nicht mehr

Wer schriftliche Prüfungen bewertet, kennt bestimmt ähnliche Beispiele wie das folgende: Jemand beschreibt und erläutert in der schriftlichen Prüfung ausführlich, was unter einer Stablinien-, einer Matrix- und einer Tensor-Organisation zu verstehen ist, welche Weisungsbefugnisse bestehen und welche Vor- und Nachteile jeweils für ein Unternehmen zu beachten sind. Zum Schluss gibt die Prüfungsteilnehmerin oder der Prüfungsteilnehmer noch eine Empfehlung für das in der Situationsbeschreibung dargestellte Unternehmen ab. Der Haken an der Antwort: Die zugehörige Prüfungsaufgabe verlangt lediglich, eine geeignete Organisationsform auszuwählen und die Auswahl mit Blick auf die Situationsbeschreibung zu begründen.

„Auswählen und Begründen“, diese Signalworte verweisen auf die Taxonomie der Lernziele und stecken einen klaren Erwartungshorizont ab: Das Erläutern aller drei potenziell in Frage kommenden Organisationsformen ist hier nicht verlangt. Genaugenommen muss noch nicht einmal die ausgewählte Organisationsform erläutert werden. Vielmehr sollen die Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer einen Zusammenhang zwischen der beschriebenen Unternehmenssituation und der Notwendigkeit einer situationsadäquaten Organisationsform herstellen und basierend auf diesem Zusammenhang eine Form auswählen. Ist das gelungen, ist die Erwartung voll erfüllt. Wird demgegenüber zwar eine Organisationsform genannt, Anforderung „Auswählen“, aber nur eine oberflächliche Begründung geliefert, die auf das Spezifische der Unternehmenssituation nicht eingeht, zum Beispiel eine gewachsene Struktur, die in der beschriebenen Krisenphase die Neuausrichtung erschwert, wurden die Erwartungen nur zum Teil erfüllt. Und fehlt jeder Bezug zur Situationsbeschreibung, wurden die Erwartungen nicht erfüllt.

Doch wie sieht es nun mit der Punktevergabe aus? Im oben aufgeführten Beispiel hat jemand doch die Erwartungen voll erfüllt – und sogar darüber hinaus noch mehr geliefert. Müsste man in so einem Falle nicht auch mal einen „Extrapunkt“ über die vom Aufgabenerstellungsausschuss empfohlene Punktzahl hinaus vergeben? Oder zumindest einen „Bonus“ im Hinterkopf behalten und diesen dann bei einer anderen Aufgabe hinzurechnen, bei der die Erwartungen vielleicht nur zum Teil erfüllt wurden? 

Ursache Unsicherheit

Doch zunächst, warum kommt es bei Prüfungsteilnehmenden zu einer solchen Überbeantwortung? Vor allem zwei Gründe bzw. Szenarien sind in der Praxis anzutreffen:

  1. Sie oder er liefert bei (nahezu) allen Fragen „zu viel des Guten“, einfach weil sie oder er die Prüfungsinhalte von A bis Z auf Top-Niveau beherrscht und das auch zeigen will.
    Seien wir ehrlich: Dieses Szenario ist nicht ganz so häufig anzutreffen. Eher liegt die Ursache darin, dass 
  2. … sie oder er die Formulierung „Wählen Sie aus und begründen Sie …“ nicht konsequent genug ernst genommen oder evtl. auch nicht mit ihren wichtigen Implikationen verstanden hat. Ganz nach dem Motto: „Viel hilft bestimmt auch viel, wenn ich zu einer Aufgabe etwas weiß, dann schreibe ich einfach alles hin, was ich weiß.“ Oder nach der Devise: „Zur Sicherheit schreibe ich lieber mal alle Möglichkeiten hin, dann kann es auf keinen Fall verkehrt sein …“

Spontan kann man diese Gedanken natürlich nachvollziehen. Wenn man in einer Prüfung an einer Stelle ganz besonders glänzen kann, überstrahlt dieser Glanz vielleicht auch „Schwächen“ an anderer Stelle? Machen wir uns nichts vor, tatsächlich steht die Frage nach einem besonderen Wohlwollen bei der Bewertung immer mal wieder im Raum oder besser gesagt zwischen den Zeilen, wie das Beispiel oben zeigt. Es ist doch nur gut gemeint, wenn man als Prüferin oder Prüfer auch mal einen „Extrapunkt“ für eine besonders gute Antwort vergibt oder einen Bonus im Hinterkopf behält, der eine schwächere Lösung bei einer anderen Aufgabe dann etwas kompensiert, oder? 

Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Dass ein solches Wohlwollen keine gute Idee ist, wird spätestens klar, wenn man sich die Bedeutung einer bundeseinheitlichen Prüfung noch einmal vor Augen führt. Alle Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erhalten zum selben Zeitpunkt dieselben Prüfungsaufgaben. Nur, wenn die Relation zwischen der Schwierigkeit einer Aufgabe und den mit ihrer Lösung verbundenen Punkten gewahrt bleibt, kann bundesweit auch eine angemessen objektive und faire Einschätzung der gelieferten Leistungen, sprich Prüfungsbewertung, erfolgen. Und erst durch diese Relation, die die Aufgabenerstellungsausschüsse im Vorfeld mit großer Sorgfalt zu den vorgeschlagenen Punktzahlen für jede Teilaufgabe ausgearbeitet haben, können die Prüfungen für die Unternehmen und ebenso für die Absolventinnen bzw. Absolventen ihre Funktion als valide Auskunft über ein erreichtes berufliches Kompetenzniveau erfüllen. Die Vergleichbarkeit der Abschlüsse erfordert von den Prüfenden auch die Einhaltung des Prinzips „Hohe Schwierigkeit entspricht hohen Punktzahlen“ – und zwar bei jeder Teilaufgabe. 

Auch im Berufsleben ist zwischen Aufgaben zu unterscheiden, die „easy“ wegzuarbeiten sind, und solchen, für die ordentlich „Gehirnschmalz“ erforderlich ist. Eben diese berufliche Praxis bilden die Aufgabenerstellungsausschüsse mit den nach Handlungskompetenzen differenzierten Aufgaben und dementsprechend abgestuften Empfehlungen für die maximal zu vergebenden Punkte ab. 

Ein weiteres Beispiel

Ist in einer Aufgabe eine Anzahl X der zu liefernden Antworten genannt, z. B. drei Argumente für die Ausbildung von Fachkräften im eigenen Unternehmen, dann sind als gemeinsames Vorgehen aller Prüfenden auch nur die ersten drei gelieferten Lösungen zu bewerten. Alles darüber Hinausgehende sollte aus dem gleichen Gebot der Fairness und Gleichbehandlung aller Prüfungsteilnehmenden nicht bewertet werden. Es zählt schlicht und einfach nicht. Dieser Sachverhalt wird bereits auf den Deckblättern der Prüfungen klar vermittelt. Idealerweise sollte daher das, was zu viel ist, bereits von der Prüferin bzw. dem Prüfer, die bzw. der die Erstbewertung durchführt, deutlich als „Ist nicht zu bewerten“ gekennzeichnet werden.

Mehr als 100 Prozent …

Wasser überläuft Glas

© combomambo/E+/Getty Images

… passen bei der Bewertung einer IHK-Prüfungsaufgabe nicht ins Glas – so könnte man die Leitlinie für die Punktevergabe formulieren. Maximal zwei im Punkteschema erreichbare Punkte für eine Teilaufgabe sind maximal zwei Punkte und selbst mit größtem Wohlwollen nicht mehr, sonst wird‘s unfair. 

Erfahrene Prüferinnen und Prüfer bestätigen die Bedeutung dieser Empfehlung auch für die mündliche Prüfung bzw. für das Fachgespräch. Viel reden hilft (meistens) nicht viel, wenn es (an anderer Stelle) an der geforderten Handlungskompetenz fehlt – mit dem Unterschied, dass der Prüfungsausschuss das Prüfungsgespräch aktiv steuern kann, während die Prüfungsteilnehmenden in der schriftlichen Prüfung auf sich selbst gestellt sind.

Fazit

Ja, man möchte den Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmern Gutes tun, doch mit Blick auf die Funktion und den Stellenwert einer bundeseinheitlichen Prüfung gibt es hierfür plausible Grenzen – zum Vorteil der Wirtschaft und aller Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Das ist ein guter Trost, wenn man mal wieder denkt: „Diese Lösung hier ist außergewöhnliche Extraklasse, dafür vergebe ich gerne die volle Punktzahl – aber eben auch nicht mehr.“

TIPP

Viele Prüferinnen und Prüfer empfehlen, die Prüfungen aufgabenweise zu bewerten, das bedeutet: Zuerst wird Aufgabe eins von allen Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmern bewertet, dann Aufgabe zwei von allen, dann Aufgabe drei usw. 

Der Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass Prüfende sich konsequent auf die Lösungen der jeweils gleichen Aufgabe konzentrieren können und so auch der Vergleich von unterschiedlichen Lösungen der Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sowie die Anwendung eines einheitlichen Bewertungsmaßes leichter fällt. 

Vor der Bewertung jeder Teilaufgabe empfiehlt es sich zudem, sich noch einmal kurz den Erwartungshorizont zu vergegenwärtigen: Was genau sollen die Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer laut Aufgabenstellung leisten? Darauf aufbauend fällt es dann umso leichter zu entscheiden, ob eine Lösung die Erwartungen voll und ganz, nur teilweise oder gar nicht erfüllt. Ebenso können durch dieses Vorgehen alle Bestandteile einer Antwort, die den Erwartungshorizont verlassen, wenn Teilnehmende sich zum Beispiel „vergaloppieren“, leichter erkannt und als „nicht relevant für die Bewertung“ gekennzeichnet werden.

Weitere Leitlinien gefragt?

Wesentliche Teile des Artikels greifen auf den von der DIHK-Bildungs-gGmbH herausgegebenen Leitfaden „Schriftliche IHK-Prüfungen bewerten“ zurück.

IHK-Prüfende können den Leitfaden über ihre IHK-Prüfungsorganisation vor Ort beziehen. 

Darüber hinaus bieten viele IHKs, teils gemeinsam mit der DIHK-Bildungs-gGmbH, spezielle Schulungen für neue und erfahrene IHK-Prüfende an. Ziel ist es, dass alle Prüfenden die rechtlichen Rahmenbedingungen souverän im Griff haben und gestärkt durch den Austausch mit langjährig erfahrenen Prüferinnen und Prüfern noch mehr Freude an diesem besonderen Ehrenamt gewinnen. 

Cover zu "Schriftliche IHK-Prüfungen souverän bewerten"

© DIHK-Bildungs-gGmbH